Ritual des Neuanfangs

Er war zu weit hinaus geschwommen, hatte sich verkalkuliert, seine Kräfte falsch bemessen. Manche mögen ihm Versagen oder gar Übermut vorwerfen, letztlich müsste aber jeder Mensch, der ein wenig Anstand vor diesem Toten hat, zugeben: es war das Ritual, das misslang. Und wer hatte seine Schreie, die anfangs noch mit dem Rauschen der Fluten ans Ufer gespült wurden, gehört? Wer hatte das Feuer bemerkt, das von ihm Besitz ergriff und ihn mit der Idee besetzte, durch ein nächtliches Schwimmen hinaus bis zum Horizont und wieder zurück, ein neuer Mensch zu werden? Beides, die Schreie und das Feuer, erloschen noch in derselben Nacht. Allein seine auf der Erde verstreute Kleidung regte tags drauf die allgemeine Aufmerksamkeit. Wem gehörte sie? Niemand meldete sich zu Wort und niemand verstand dieses sprachlose Zeugnis, seinen Entschluss, Mut für bare Münze zu halten, denn als außerordentliches Zeichen in der Ordnung dieses Rituals war seine Kleidung der einzige Teilnehmer an der Schwelle zur Initiation gewesen, ihr Ablegen kündete von dem Moment seines Hinübertretens: zuerst seine Schuhe, sie standen bei der Feuerstelle, darauf in zwei Metern seine Hose und schließlich am Scheidepunkt, mitten im Meeresschaum, sein Hemd. Von dort an verschwanden seine Spuren und der Rest ist in den Gefilden grundloser Dunkelheit reine Spekulation. Aber spekulieren wir ruhig in Anbetracht der Situation, dass er sich selbst verspekuliert hatte, malen wir aus und wir sehen, dass der Mann im Mond ihm keinen Weg zurückwies – zu fad war der nächtliche Himmel unter Wolken gehüllt. Und fühlen wir uns hinein, Wellen können wie Faustschläge sein, die nichts anderes bezwecken, als ihren Widersacher zu Boden zu strecken. Und man stelle sich vor, mit müden Beinen im Wasser zu strampeln und nicht zu wissen, wohin man schwimmen soll – derjenige wird erschöpft einräumen: es kommt die Welle und diese reißt einen dann hinunter, bis die Luft des letzten Atemzugs vom stimmenlosen Ende verschluckt wird.

Über den Autor

Lebensringer

Mal Dichter, mal Denker, mal Marketingfuzzi, der am liebsten als radelnder "Lost Boy" auf Abenteuerreisen geht.

"Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.

Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,
und ich kreise jahrtausendelang;
und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm
oder ein großer Gesang."

[Rainer Maria Rilke]

2 Kommentare

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  • Weder noch – Ritual des Neuanfangs ist eher als eine in sich geschlossene Metapher zu lesen, als eine Metapher für … – wir wollen etwas verändern und initiieren dafür ein Ritual, das einen Neuanfang begründen soll, aber die Handlungsbedingungen folgen nicht dem eigenen Willen und wir ertrinken in diesen bis der eigene Wille (die Schreie und das Feuer) erlischt.

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